| 
       
      
      
       
      
      
       
      
      
       
      Misstrauische Patienten, 
      Unerfüllbare Vorgaben 
       
      
        
       
      "Ständig werden PATIENTEN dazu 
      aufgefordert, ihren ÄRZTEN zu misstrauen. 
      Sie auf die optimale Erfüllung ihrer Aufgaben hin zu überprüfen. Sich zu 
      fragen, ob 
      sie wirklich bestmöglich behandelt werden. Das 
      Recht auf bestmögliche Behandlung 
      soll immer und überall zu Anwendung kommen. 
       
      In der THEORIE stellt weder diese Forderung noch deren Erfüllung ein 
      Problem dar. 
      In der PRAXIS stehen sich aber vom Gesetzgeber nicht vorgesehene 
      Situationen und unerfüllbare 
      juridische Ansprüche gegenüber. Bei einem Autobusunfall mit zig 
      Schwerverletzten wird die Behandlungs- 
      qualität trotz bester Alarmierungsmaßnahmen eine andere sein müssen, als 
      sie einem einzelnen schwer- 
      verletzten Patienten zu Teil werden kann. Eine Grippeepidemie wird 
      sowohl Spitalskapazitäten als auch die 
      Systemressourcen im niedergelassenen Bereich an juridisch nicht 
      vorgesehene Grenzen stoßen lassen. 
       
      So heißt es im Einzelvertrag zwischen Arzt und Krankenkasse: "Der 
      Aufforderung zur Visite 
      ist Folge zu leisten." - Wenn aber zu Grippezeiten 45 Patienten pro 
      Tag um einen Arztbesuch 
      bitten, so ist es dem Arzt schlicht und einfach nicht möglich, neben 
      seiner Ordinationszeit 
      noch alle 45 Hausbesuche durchzuführen; auch wenn der Patient 
      das Recht auf eine Visite am Krankenbett hätte. 
       
      Doktor J. ist niedergelassener 
      Internist. Er beginnt regelmäßig um 6 Uhr zu ordinieren, damit 
      berufstätige Patienten 
      noch vor der Arbeit Arzttermine wahrnehmen können. Um diese Uhrzeit bittet 
      er einen 39-jährigen Mann, 
      sich zwei oder drei Minuten zu gedulden, bis er eine eben abgeschlossene 
      24-Stunden-Blutdruckmessung 
      ausgewertet hat. "Herr J., aber ich habe meine 
      Zeit nicht gestohlen", antwortet der Patient eher schroff. 
      Doktor J. versucht die angespannte frühmorgendliche Situation zu 
      entschärfen: "Aber zwei Minuten haben Sie 
      schon Zeit, oder?" Daraufhin rastet der Handelsangestellte völlig 
      unvermittelt aus und beschimpft Doktor J.: 
      "Sie Affenschädel, was bilden Sie sich ein!"
      Und als Doktor J., nunmehr besonders freundlich, den Patienten 
      ersucht, 
      sich zu entschuldigen, droht dieser: "Herr J., 
      wenn Sie wollen, kriegen Sie eine Abreibung, die Sie nicht so schnell 
      vergessen werden!" Dann springt er auf und brüllt im 
      Hinausgehen: "Stecken Sie sich Ihren 
      Blutdruckapparat 
      in den ... !" und verschwindet um 6:08 Uhr, ohne die 
      honorarpflichtige Untersuchung bezahlt zu haben. 
       
      Natürlich sind solche Wortwechsel in 
      Arztpraxen nicht an der Tagesordnung, aber sie kommen mit 
      erschreckender Regelmäßigkeit vor. Und immer öfter fragen sich Ärzte, 
      welchen Schutz sie eigentlich 
      vor aggressiven, aufbegehrenden Patienten 
      haben. Ein Zufall, dass immer mehr niedergelassene 
      Ärztinnen und Ärzte Sicherheit in einem in Griffweite aufbewahrten 
      Pfefferspray suchen? 
       
      Im oben beschriebenen Fall wird der 
      Patient einfach den nächsten Arzt aufsuchen. 
      Das System erlaubt es, es sieht Sanktionen nur für aus der Rolle fallende 
      Ärzte vor. 
      Eine zweite, dritte, x-te Meinung einzuholen wird jedem Patienten 
      zugestanden. 
      Zum noch besseren Fachmann zu gehen. Die Finger-, Fuß-, Schmerzambulanz, 
      den Kniespezialisten, den Fachmann für die Haut, in der man sich nicht 
      mehr wohl 
      fühlt, aufzusuchen. Immer mit rechtlich gestärktem Rücken. 
       
      Das Recht auf 
      beste Medizin wird mit dem Recht auf den 
      besten Arzt verwechselt. 
      Und wer ist das überhaupt? Um dieser Frage aus dem Weg zu gehen, 
      bemüht sich der 
      Gesetzgeber verzweifelt, durch strenge Normen und Raster alle Ärzte gleich 
      gut zu machen. 
      Ein weiterer vergeblicher Kampf gegen Windmühlen. Denn wenn alle Ärzte 
      eines Landes 
      einmal gleich sind, wird es keinen herausragenden mehr geben können. 
       
      Und vergessen wird dabei eines: 
      Die Qualität eines Arztes entsteht erst 
      in der individuellen Arzt-Patient-Beziehung. 
      Vertrauen ist nicht normierbar. Es gibt kein Recht auf Vertrauen, 
      sondern nur ein Bemühen darum. Ein Bemühen, das nur 
      von Arzt und Patient gemeinsam ausgehen kann. 
       
      "Doctor-Hopping", 
      also das häufige Wechseln von Ärzten, ist eine weitere Folge der 
      allgemeinen 
      Verunsicherung. Wenn zwei Ärzte nicht die gleiche Meinung zu einem Fall 
      haben, muss sich 
      einer von ihnen irren, so lautet der anscheinend logische Schluss - aber 
      niemand gibt dabei 
      zu bedenken, dass es verschiedene Wege der 
      Heilung geben kann. Eher wird noch 
      eine weitere Stelle befragt, "ins Vertrauen gezogen". Vertrauen, das 
      diesen Namen 
      schon lange nicht mehr verdient. 
       
      Oder die Patienten machen sich selbst zum Arzt und 
      stellen ihre eigene Diagnose. 
      Einer zunehmend verunsicherten, von gesetzlichen Verpflichtungen 
      eingeengten und zermürbten 
      Ärzteschaft steht eine vor Selbstvertrauen und Rechten strotzende 
      Patientenschaft gegenüber, 
      die in ihrer Begierde nach Krankheit und Heilung kaum noch zufrieden 
      gestellt werden kann. 
      Ohne jedes Schamgefühl werden dabei fachlich wie grammatikalisch völlig 
      falsche und irreführende 
      Begriffe wie "Magengastritis", "Herz-EKG" oder gar "Hubschraubervirus" 
      (statt Helicobacter, 
      und der ist kein Virus, sondern ein Bakterium) verwendet - und wehe, ein 
      Arzt stößt sich daran. 
       
      Der Arzt soll vor allem jede Befindlichkeitsstörung ernst nehmen und ja 
      keine mögliche Erkrankung 
      (und wir wissen: Nichts ist unmöglich!) übersehen. Sonst drohen Patienten,
      Rechtsanwalt und Imageverlust. 
       
      So werden laufend kostspielige Untersuchungen ohne Nutzen für den 
      Patienten durchgeführt. 
      Es gibt zum Beispiel eine irrational hohe Zahl von MRT-Untersuchungen der 
      Lendenwirbelsäule bei 
      Verdacht auf Bandscheibenvorfall. Die erhobenen Befunde bleiben ohne 
      therapeutische Konsequenz, 
      die Behandlung ohne MRT-Befund wäre weitgehend dieselbe. Aber immer mehr 
      Ärzte sichern sich so 
      rechtlich ab, gerade durch die unzähligen Bildgebenden 
      Untersuchungstechniken wie MRT oder Röntgen. 
       
      Zur Rechtfertigung könnte man höchstens noch in die Waagschale werfen, 
      dass durch solche 
      an sich unnötigen Untersuchungen hin und wieder durch Zufallsbefunde 
      ernste Erkrankungen 
      entdeckt werden und so das eine oder andere Leben gerettet werden können. 
      Vorübergehend 
      wohl nur, aber immerhin - denn die Sterblichkeit des Menschen beträgt 
      immer 100 Prozent. 
       
      Und um welchen Preis bezahlen wir diese Zufallserfolge? Wie viele gesunde 
      Probanden 
      müssen untersucht werden, um einem Menschen das Leben zu retten? Wie viele 
      Lungen- 
      röntgen müssen angefertigt werden, um ein Lungenkarzinom zufällig zu 
      entdecken?" 
	   
      
       
     
      
Günther 
    Loewit 
    (b.1958) 
    Österreichischer Arzt, Autor 
      Buch: „Der 
          ohnmächtige Arzt. Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems“ 
      Kapitel: Die verwaltete Medizin. Unterkapitel: Die Macht der Juristen. 
      Misstrauische Patienten, unerfüllbare Vorgaben. Seite 127-131 
      HAYMON 2010 
       
       
      
      
        
       
      
      Gesundheit um welchen Preis? 
       
      "Unsere Gesellschaft steht letztlich vor einer philosophischen 
      Fragestellung: 
      
      Es ist zwar unmöglich, das
      Recht auf Gesundheit und
      ein langes Leben 
      einzuschränken oder in Frage zu stellen. 
       
      
      Aber wo werden die finanziellen Grenzen gezogen? 
      Von wem? Und vor allem: Wann? Und mit welchem Recht? 
      Wie lange wird Geld zur Verfügung stehen, um das Recht auf Gesundheit 
      für alle zu sichern? Wie lange werden immer weniger junge Menschen 
      ihren Obolus für die Gesundheit einer überalternden Gesellschaft 
      entrichten? 
      Wann wird zum ersten Mal laut überlegt werden, wie alt ein Mensch werden 
      muss? 
      Und wozu? 
       
      Natürlich sei jedem Menschen ein langes, gutes und gesundes Leben gegönnt, 
      gewünscht. 
      Aber die Frage nach der finanziellen Machbarkeit 
      muss erlaubt sein. 
      Doch so lange noch kein Murren, kein Stöhnen der Steuerzahler zu hören 
      ist, 
      wird munter weiter untersucht, vermeintliches Wohlbefinden in Frage 
      gestellt. 
      Gutes Geschäft mit der Angst gemacht. 
       
      Krankenkassendefizit hin oder her, die Bilanzen der privaten 
      Krankenhausbetreiber zeigten 2009, 
      wie eine jüngst in Deutschland veröffentlichte Studie belegt, trotz der 
      Krise ein traumhaftes Wachstum. 
      Zufällig, ohne gezielte medizinische oder politische Absicht wird 
      untersucht und geforscht. 
      Und argumentiert, dass die frühzeitige Erkennung und Behandlung von 
      Krankheiten 
      dem Staat sparen helfe. Nur über die Kosten dieser Vorgangsweise wird 
      geschwiegen. 
       
      Eine Regel aus dem Wirtschaftsleben besagt: Mit 20% der zur 
      Verfügung stehenden Ressourcen 
      sind erfahrungsgemäß 80% der gestellten Aufgaben zu bewältigen. Für die 
      restlichen 20% 
      müssen 80% der zur Verfügung stehenden Mittel aufgewendet werden. 
       
      Diese Faustregel eignet sich 
      sehr gut, verschiedene Prozesse im Gesundheitssystem 
      aus finanzieller Sicht zu beleuchten. 80% Redundanz und Ballast für 20% 
      Effektivität. 
      Die logischen Konsequenzen aus dieser Vermutung zu ziehen,
      verbietet sich in der Praxis 
      von selbst. Denn die Klagefreude von spezialisierten Anwälten hängt wie 
      ein 
      Damoklesschwert in jedem Behandlungsraum. 
       
      Frau Anna F. ist 72 
      Jahre alt. Bei einem routinemäßigen EKG wird Vorhofflimmern 
      festgestellt. 
      Da die Dame außerdem übergewichtig ist und an erhöhtem Blutdruck leidet, 
      eröffnet ihr der Internist 
      Doktor H., dass zur Vermeidung von Schlaganfällen, wie sie bei Patienten 
      mit Vorhofflimmern vorkommen 
      können, eine Blutverdünnungstherapie eingeleitet werden muss. Aber bevor 
      er diese Behandlung beginnen kann, 
      müsse zuerst eine Magenspiegelung sowie eine Augenuntersuchung 
      durchgeführt werden, um möglicherweise 
      bestehende Geschwüre oder Gefäßschäden, welche unter der geplanten 
      Behandlung zu bluten beginnen könnten, 
      auszuschließen. Gewissenhaft klärt er Frau F. über die Notwendigkeit der 
      anstehenden Maßnahmen und die 
      möglicherweise auftretenden Nebenwirkungen und Komplikationen auf. So, wie 
      es das Gesetz verlangt und er es 
      in den entsprechenden Fortbildungen gelernt hat. 
      Aber Frau F. verweigert die Unterschrift am Aufklärungsbogen. 
      Das sei ihr alles zu gefährlich, sie sei mit ihrem Leben, so wie es ist, 
      zufrieden und lehne alle vorgeschlagenen 
      Untersuchungen und Behandlungen ab. "Dann können Sie aber jederzeit 
      einen Schlaganfall bekommen", warnt H. 
      noch einmal. Macht in seiner Not der verunsicherten Patientin Angst, 
      um die vorgesehene "State-of-the-Art"-Therapie 
      zur Anwendung bringen zu können. Frau F. wird noch einmal nachdenklich, 
      erwägt ein Einlenken. "Aber was ist, 
      wenn ich eine Gehirnblutung bekomme und mein Blut nicht mehr richtig 
      gerinnt?" Doktor H., an diesem Punkt 
      selbst verunsichert, sagt, was Ärzte früher nie gesagt hätten: "Ja, das 
      Risiko müssen Sie selbst tragen." 
      Worauf Frau F. endgültig entscheidet, so wie bisher weiterzuleben. Nur mit 
      neuen Ängsten, die sie bis zu 
      jenem Augenblick nicht hatte. Im Laufe der folgenden Wochen erhält sie von 
      ihrem Hausarzt 
      ein Antidepressivum verordnet." 
       
      Günther Loewit (b.1958, österreichischer Arzt, Schriftsteller): „Der 
          ohnmächtige Arzt. Hinter den Kulissen des Gesundheitssystems“ 
          Kapitel: Die verwaltete Medizin. Unterkapitel: Die Macht der Juristen. 
      Gesundheit um welchen Preis? Seite 131-133 
          HAYMON 2010 [Ergänzungen] 
	  
 
 
   |