Aus:
„Ein zweites Leben"[1]

“Ich kann mir nichts Schamloseres vorstellen als den Versuch,
die Existenz Gottes mit Hilfe der Physik oder der Biologie
zu beweisen oder zu widerlegen.

Der Glaube an Gott kann durch die Naturforschung ebenso wenig vernichtet werden
wie der Glaube and die Naturforschung durch den Gottesglauben.

Die beiden Feldzüge finden auf derart verschiedenen Ebenen statt,
dass es niemals zu einem Zusammenstoß kommen kann.

Die Suche nach Gott vermittels der Naturwissenschaft ist ein Unsinn.

Gott ist nicht etwas, was man finden kann wie einen verlorenen Knopf;
er ist das ewig Unauffindbare, das ewig Unaussprechliche, vor dem
unsere Sprachen, unsere Grammatiken versagen müssen.“…

„Jetzt also haben die Naturwissenschaften angefangen, sich
die Waffen, die sie gegen die Natur einzusetzen vorhaben,
gegen ein geringes Entgelt einsegnen zu lassen.

Besonders die Genetik und die Medizin haben
ein solches Pauschalpardon sehr nötig.

Wie könnten sie sonst ruhig schlafen,
wenn sie gerade damit fertig geworden sind,
sagen wir,
menschliche Gene in Tomaten oder Kartoffeln zu verpflanzen
oder den Leichnam eines soeben verschiedenen Kindes zu zerlegen,
um seine Organe nutzbringend zu verwenden?

Könnte nicht jemand ihnen vorhalten, dass manche
ihrer Tätigkeiten einer Gewöhnung der Menschen
an den Kannibalismus gleichkämen?

Aber nur Geduld: auch die Menschenfresserei
wird bald ihre Ethikspezialisten haben.

Und jetzt, da man … Lebewesen patentieren darf,
kann es nur eine Frage der Zeit sein,
bis man patentierte Menschen züchten wird,
und dann wird es auch dafür Bioethiker geben
und darauf spezialisierte Patentanwälte
und schließlich vielleicht auch Gourmetköche.“…

Aus: „Kritik der Zukunft“ [2]

„Seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts (18.Jhd.)
macht sich eine steigende Arroganz der Naturwissenschaftler fühlbar:
sie sind die einzigen Hüter der Wahrheit; was sie nicht wissen, ist nicht wahr;
nur sie sind befähigt, die Vorgänge der Natur zu erklären;
und wenn man den Menschen etwas erklärt, so ist es ihnen klar.

Sie sind die Todfeinde des Unerklärlichen und werden
dieses bald als nichtexistent bezeichnen.

Die Verkümmerung, die Abtötung jeglichen religiösen Gefühls
nehmen sie gerne in Kauf, denn an die Stelle der Religionen
haben sie die Wahrheit über die Natur gesetzt.

Dass diese sich alle dreißig Jahre ändert, wird als Fortschritt gebucht,
dass diese Art von Erklärungswissenschaft
eine unheilvolle Verarmung der Menschenseele zur Folge gehabt hat,
lag vielleicht nicht im ursprünglichen Wesen der Naturwissenschaften,
die es Hunderte von Jahren vermieden hatten,
den Teil mit dem Ganzen zu verwechseln.

Im Reiche des Lebens besitzt nur die Krebszelle
ein Unfehlbarkeitsdogma, und daran stirbt sie“…

„Kaum hatte die physikalische Pandora [I] ihre Geschenke aus der Büchse ausgepackt,
kam schon die chemische Pandora mit ihrem Gabenkorb, und seitdem
wird vergiftet und geschuftet, bestrahlt und gepfropft wie nie zuvor.

Die Molekularbiologie, die Gentechnologie:
Segnungen, nach denen man sich nicht gesehnt hat.

Unter dem Vorwand, den Kranken zu heilen,
macht man die Menschheit krank.

Unter dem Vorwand, die Welt zu bereichern,
macht man sie arm und elend.

Der Mensch wird einsam auf der Erde,
man schwätzt von Evolution, hat es aber dazu gebracht,
dass jeden Tag Jahrmillionen alte Tier- und Pflanzenarten
auf ewig verschwinden.

Wer braucht sie noch, jetzt da sie katalogisiert sind?

Wenn du ein Bild gesehen hast, hast du alle gesehen“,
sagte der Esel, als man ihn ins Museum führte“…


[I] Nach der griechischen Mythologie brach nach dem Öffnen der Büchse der Pandora
alles Schlechte über die Welt herein!




Erwin Chargaff
(11. August 1905 in Czernowitz (Ukraine) - 20. Juni 2002 in New York City, USA)
Österreichisch-amerikanischer Biochemiker und Schriftsteller

Als Wissenschaftler lieferte Erwin Chargaff wichtige Beiträge zur Entschlüsselung der DNA-Struktur.
Nach seiner Emeritierung machte er sich auch als stilistisch geschliffener und kritischer Essayist
auch außerhalb der Welt der Forschung einen Namen.

[1]
„Ein zweites Leben - Autobiographische und andere Texte“ KLETT COTTA 2000 2.Auflage
[2]
„Kritik der Zukunft“ KLETT COTTA 1998 5.Auflage

„Vermächtnis - Essays“ KLETT COTTA 1993 2.Auflage
„Abscheu vor der Weltgeschichte - Fragmente vom Menschen“ Klett-Cotta 2002 5.Auflage
„Die Aussicht vom 13.Stock - Neue Essays“ KLETT COTTA 2002 3. Auflage
„Das Feuer des Heraklit - Skizzen aus einem Leben vor der Natur“ KLETT COTTA 1999 5.Auflage
„Ernste Fragen - Essays“ KLETT COTTA 2000 2.Auflage
„Wider den Genrausch - Eine Jahrhundertbegegnung - Doris Weber im Gespräch
mit Erwin Chargaff“ PUBLIK FORUM 1999
„Brevier der Ahnungen- Eine Auswahl aus dem Werk“ KLETT COTTA 2002
„Zeugenschaft - Essays über Sprache und Wissenschaft“ KLETT COTTA 1985