"Mache eine Bestandsaufnahme
derjenigen, die um dich sind,
und du wirst … hören,
wie sie über sich selbst
und über ihre Umgebung
mit größter Genauigkeit
sprechen,
als machten sie sich
Gedanken darüber.


Fängst du aber erst einmal an,
diese Gedanken zu analysieren,
wirst du merken,

dass diese kaum jemals
in einem unmittelbaren
Zusammenhang
mit der Wirklichkeit stehen,

die sie wiederzugeben
scheinen,


und wenn du dich
noch eingehender damit befasst,
wirst du entdecken,
dass nicht einmal
der Versuch gemacht wird,
die Gedanken der Wirklichkeit
anzupassen.


Im Gegenteil:
mittels seiner Ansichten
will der Mensch
sich nur
jeglicher persönlichen
Realitätskonzeption,
ja seinem eigenen Leben
verschließen.


Denn schon zu Beginn
ist das Leben ein Chaos,
in dem wir verloren sind.


Der einzelne ahnt dies zwar,
ist aber voller Furcht,
sich dieser schrecklichen Realität
gegenübergestellt zu wissen,
und er versucht,
einen Vorhang der Phantasie,
in der alles klar ist,
davor zu ziehen.


Es macht ihm nichts,
dass seine „Vorstellungen“
nicht wahr sind,
er braucht sie
als Schützengräben
zur Verteidigung seiner Existenz,
als Vogelscheuchen
zum Abschrecken der Realität"

Aus: „Der Aufstand der Massen" La rebelión de las masas, Madrid 1929
Stuttgart DVA 2002 (1936) ISBN 3-421-06503-9

José Ortega y Gasset
(1883 – 1955)
spanischer Philosoph, Soziologe, Essayist