Woher komme ich?
Wo hast du mich gefunden?
fragt das Neugeborene seine Mutter.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge
drückt sie das Kind an ihre Brust und antwortet ihm:


„Mein Schatz, du warst in meinem Herzen verborgen,
Du warst mein Herzenswunsch.
Du warst in den Puppen meiner Kindheit.

Als ich jeden Morgen aus Ton das Ebenbild meines Gottes formte,
warst Du das Wesen, das ich formte und immer wieder formte.
Du warst mit der Gottheit auf unserem Hausaltar.
Indem ich sie anbetete, betete ich auch dich an.

In all meinen Hoffnungen, in all meinen Lieben, in meinem Leben,
im Leben meiner Mutter bist du es, der gelebt hat.
Der unsterbliche Geist, der Haus und Herd beschützt,
hält dich seit Urzeiten liebevoll an seine Brust gedrückt.

In meiner Kindheit, als mein Herz sich wie Blütenblätter
zu öffnen begann, hülltest du es ein wie ein betörender Duft.
Deine zarte Frische machte meine jungen Glieder samtig
wie
der Widerschein von Tau, der der Morgendämmerung vorausgeht.


Du, kleines Himmelswesen, das das Licht der ersten Morgenstunde
zur Zwillingsschwester hat, bist von den Wellen des Lebens
zu mir getragen und schließlich in mein Herz gelegt worden!
Während ich dein Gesicht betrachte, verschlingt mich das Mysterium.
Du, der Du allen gehörst, bist mir geschenkt worden!

Aus Angst, dass du mir entwischen könntest, drücke ich dich fest
an mein Herz. Was für ein Wunder hat der Schatz der Welt
meinen schwachen Armen anvertraut?“

Rabindranath Tagore
(7. Mai 1861 in Kolkata (Calcutta) Indien - 7. August 1941 ebenda)
Bengalischer Dichter, Philosoph, Maler, Komponist, Musiker.
1913 Nobelpreis für Literatur für den Gedichtsband »Gitanjali
(Sangesopfer) „Erste asiatische Nobelpreisträger"